Sade und die Spieltheorie

Sade und die Spieltheorie ist ein Essay von Stanisław Lem. Darin nähert er sich aus spieltheoretischer Sicht einer literaturtheoretischen Analyse von Utopie und Anti-Utopie, Märchen und Anti-Märchen an und betrachtet im Verlauf auch Fragen der Theodizee. Die Weltbilder, die diesen Literaturgattungen zugrunde liegen, werden auf ihr Verhalten gegenüber den als „böse“ oder „gut“ klassifizierten Protagonisten hin untersucht. Das Anti-Märchen generiert dabei logische und literarische Probleme, weshalb die Literaturgattung laut Lem auch nicht existiere. Diese These stellt sich als Irrtum heraus: In einem nachgetragenen Appendix ergänzt Lem den namensgebenden Marquis de Sade, der das Konzept des Anti-Märchens tatsächlich umgesetzt habe. Der Text erschien 1981 auf Deutsch, die Übersetzung besorgte Friedrich Griese.[1]

Inhalt

Lem entwirft ein spieltheoretisches Setting, in dem sich Individuum und Welt als Spieler gegenüberstehen. Das Individuum verfolgt eine Strategie mit dem Ziel der Verlängerung und Verbesserung seiner Existenz, die Strategie der Welt als „Akteur“ ist unbestimmt. Sie kann prinzipiell dem Individuum gegenüber wohlwollend, indifferent oder feindlich sein.

Die Pole wohlwollend/feindlich sind Ausgangspunkt der literarischen Einordnung verschiedener Genres: In einer Welt, die sich gegenüber allen wohlwollend verhält, spielen Utopien, ist sie nur einzelnen Akteuren gegenüber wohlwollend, finden Märchen statt. Eine allen Akteuren gegenüber feindliche Welt generiert Dystopien (bei Lem „Anti-Utopien“), eine nur einzelnen Akteuren gegenüber feindliche Welt das „Anti-Märchen“ eine Gattung, zu der Lem zunächst keine tatsächliche Entsprechung findet und eine Leerstelle diagnostiziert.

Diese Koordinaten setzt Lem anschließend in Bezug zum Mythos (in dem die Parteilichkeiten der Welt differenzierter oder dynamischer auftreten können). Insbesondere den christlichen Mythos verortet Lem indessen als „unendlich ungerecht“ angesichts der Drohung unendlicher Strafe auf endliche Taten und der grundsätzlichen Unerforschlichkeit des Gegenspielers.

Im zweiten Abschnitt des Textes versucht Lem eine Theorie des Anti-Märchens zu entwerfen und kommt zum vorläufigen Schluss, dass die Widersprüche nicht auflösbar, die Gattung daher literarisch nicht sinnvoll zu bearbeiten sei. Während das Märchen mit dem Sieg des Guten über das Böse in einer anschließenden Harmonie münden könne, sei ein analoger Sieg des Bösen nicht vorstellbar, da dieser permanent auf das Unglück des Antagonisten angewiesen sei. Der Sieg könne nicht final sein, das Böse allein für sich kein wünschenswertes Ziel erreichen, „...es endet, falls es völlig konsequent ist, mit einem Schlachtfeld, auf dem ein letztes einsames Ungeheuer seine Wunden leckt.“ Der Grund sei logisch und damit fundamental: Güte als „symmetrisches“ Prinzip kann man sich und anderen entgegenbringen, das Böse, das man anderen wünscht, wünsche man sich nicht selbst.

In einem sehr kurzen dritten und letzten Abschnitt verortet Lem das Werk von de Sade in der vorher ausgemachten Leerstelle des Anti-Märchens und merkt an, dass ihm erst zum Ende der Analyse diese Analogie ins Auge gesprungen sei.

Parallelen in anderen Werken

Die Welt als Akteur, die sich den Individuen gegenüber wohlwollend, indifferent oder feindlich verhält, taucht in Lokaltermin mit der „Theorie der drei Welten“ wieder auf. Sie wurde zur theoretischen Grundlage der später auf der Entia geschaffenen „Ethosphäre“, einer absolut wohlwollenden Welt.

Ausgaben

Erstausgabe: Sade und die Spieltheorie. In Essays. Insel Verlag Frankfurt am Main, 1981. ISBN 3-458-04970-3

Neuherausgabe: Sade und die Spieltheorie. Essays. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1986. ISBN 3-518-37804-X

Einzelnachweise

  1. Stanisław Lem: Sade und die Spieltheorie. In: Essays (= Werke in Einzelausgaben / Stanisław Lem). 1. - 3. Tsd Auflage. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1981, ISBN 978-3-458-04970-8, S. 79–118. 
Werke von Stanisław Lem

Science-Fiction-Werke: 1946 Człowiek z Marsa (dt. Der Mensch vom Mars, 1989) | 1951 Astronauci (dt. Der Planet des Todes / Die Astronauten, 1954) | 1955 Obłok Magellana (dt. Gast im Weltraum, 1956) | 1957 Dzienniki gwiazdowe (dt. Sterntagebücher, 1961) | 1959 Eden (dt. Eden, 1960) | 1961 Solaris (dt. Solaris, 1972) | 1961 Pamiętnik znaleziony w wannie (dt. Memoiren, gefunden in der Badewanne, 1974) | 1961 Powrót z gwiazd (dt. Transfer / Rückkehr von den Sternen, 1974) | 1964 Niezwyciężony (dt. Der Unbesiegbare, 1967) | 1964 Bajki robotów (dt. Robotermärchen, 1969) | 1965 Cyberiada (dt. Kyberiade, 1983) | 1968 Opowieści o pilocie Pirxie (dt. Pilot Pirx, 1978) | 1968 Głos Pana (dt. Die Stimme des Herrn, 1981) | 1969 Opowiadania (dt. Nacht und Schimmel, 1972) | 1971 Kongres futurologiczny (dt. Der futurologische Kongreß, 1974) | 1976 Maska (dt. Die Maske, 1978) | 1981 Golem XIV (dt. Also sprach Golem, 1984) | 1982 Wizja Lokalna (dt. Lokaltermin, 1985) | 1986 Pokój na ziemi (dt. Der Flop / Frieden auf Erden, 1986) | 1987 Fiasko (dt. Fiasko, 1986) |

Verschiedene: 1951 Jacht „Paradise” (Theaterstück, mit Roman Hussarski) | 1955 Szpital przemienienia (dt. Die Irrungen des Dr. Stefan T. / Das Hospital der Verklärung, 1959) | 1957 Dialogi (dt. Dialoge, 1980) | 1959 Śledztwo (dt. Die Untersuchung, 1975) | 1964 Summa technologiae (dt. Summa technologiae, 1976) | 1968 Filozofia przypadku (dt. Philosophie des Zufalls, 1983 / 1985) | 1968 Wysoki Zamek (dt. Das Hohe Schloß, 1974) | 1970 Fantastyka i futurologia (dt. Phantastik und Futurologie, 1977 / 1980) | 1971 Doskonała próżnia (dt. Die vollkommene Leere, 1973; Das absolute Vakuum, 1984) | 1973 Wielkość urojona, (dt. Imaginäre Größe, 1976) | 1976 Katar(dt. Der Schnupfen 1976) | 1978 Rozprawy i szkice, (dt.  aufgeteilt auf Sade und die Spieltheorie, 1986; Über außersinnliche Wahrnehmung, 1987; Science-fiction: ein hoffnungsloser Fall mit Ausnahmen, 1987) | 1980 Prowokacja, (dt. Provokation, 1981) | 1983 One Human Minute, (dt. Eine Minute der Menschheit, 1983) | 1983 Weapon Systems of the 21st Century or the Upside Down Evolution, (dt. Waffensysteme des 21. Jahrhunderts, 1983) | 1983 The World as Holocaust, (dt. Das Katastrophenprinzip, 1983) | 1992 Die Vergangenheit der Zukunft | 1996 Tajemnica chińskiego pokoju, (dt. Die Technologiefalle, 2000) | 1999 Bomba megabitowa, (dt. Die Megabit-Bombe, 2003) | 2000 Okamgnienie, (dt. Riskante Konzepte, 2001) | 2003 DyLEMaty | 2006 Rasa drapieżców – Teksty ostatnie | 2009 Sknocony kryminał (posthum) |

Verfilmungen: 1960 Der schweigende Stern | 1963 Ikarie XB 1 | 1968 Solaris | 1972 Solaris | 1974 Die Untersuchung | 1978 Testflug zum Saturn | 2002 Solaris | 2007/2011 Ijon Tichy: Raumpilot

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